Mittwoch, Juni 14, 2006

Buber Martin: Uebersetzung der Hebräischen Bibel

Seit Jahren bin ich total begeistert, wie Martin Buber (teilweise gemeinsam mit Franz Rosenzweig) die jüdische Bibel verdeutscht und wie er seine Kriterien „Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift“ dargelegt hat in "Die fünf Bücher der Weisung". Das ganze Alte, oder besser: Erste oder Hebräische Testament ist in drei Bänden bei Lambrecht Schneider im Bleicher Verlag Gerlingen erschienen.
Buber schrieb: In zwei Hauptpunkten hebt sich das sogenannte Alte Testament von den grossen Bücher der Weltreligionen ab:
· Ereignis und Wort stehen im Volk, in der Geschichte und in der Welt. Es erhebt sich nicht über die Volksgeschichte, dringt in sie ein und ist trotzdem Vorbild für andere Völker und die Welt
· Das Gesetz gilt dem natürlichen Leben des Menschen und drückt eine lebensumschliessende Wirklichkeit aus: So sind Fleischessen und Tieropfer aneinander gebunden, die eheliche Reinheit wird monatlich im Heiligtum geweiht, der triebhafte und leidenschaftliche Mensch wird angenommen, wie er ist und geheiligt, damit er nicht süchtig werde. Besitz wird nicht verpönt, aber alles gehört Gott, der für Ausgleich sorgt, denn die wachsende Ungleichheit darf nicht die Gemeinschaft sprengen. Das Alte Testament ist nie nur religöses oder geistiges Schrifttum, das sich in einer Schublade unterbringen lässt und schweigt. Dann fasst man es nicht, und es erfasst einen nicht mehr! Seine rettende Kraft wird gelähmt.

Den Zugang zum Alten Testament sieht Buber so: „Der heutige Mensch ... kann sich diesem Buch auftun und sich von dessen Strahlen treffen lassen, wo sie ihn eben treffen, er kann sich, ohne Vorwegnahme und ohne Vorbehalt, hergeben und sich erproben lasse; er kann aufnehmen, und erwarten, was etwa an ihm geschehen wird, warten, ob nicht zu dem oder jenem in dem Buch eine neue Unbefangenheit in ihm aufkeimt. Dazu ums er freilich die Schrift vornehmen, als kennte er sie noch nicht; als hätte er sie nicht in der Schule und seither im Schein religiöser und wissenschaftlicher Sicherheiten vorgesetzt bekommen; als hätte er sie nicht zeitlebens allerlei auf sie berufende Scheinbegriffe und Scheinsätze erfahren; neu ums er sich dem neugewordenen Buch stellen, nichts von sich vorenthalten, alles zwischen jenem und ihm geschehen lassen, was geschehen mag.
Er weiss nicht, welcher Spruch, welches Bild ihn von dort aus angreifen und umschmelzen, woher der Geist brausen und in ihn fahren wird, um sich in seinem Leben neu zu verleiben; aber er ist aufgetan. Er glaubt nichts von vornherein, er glaubt nicht von vornherein nicht. Er liest laut, was dasteht, er hört das Wort, das er spricht, und es kommt zu ihm, nichts ist präjudiziert, der Strom der Zeiten strömt, und dieses Menschen Heutigkeit wird selber zum auffangenden Gefäss.“

Für Buber haben verschiedene Umstände die unmittelbare Kraft der Hebräischen Bibel überlagert und damit vermindert:
· Leser, die keine Hörer oder gar Lauschende mehr sind
· Begriffe, die durch Theologie und Literatur (einseitig) „besetzt“ sind
· Distanzierter Respekt ohne wirkliche Ehrfurcht, Anschauung und Erkenntnis
· Abendländisches Denken ohne hebräische Bildhaftigkeit, Bewegtheit & Leiblichkeit
· Inhalt ohne ursprüngliche Form (Inhalt und Form sind für Buber unauflösbar miteinander verbunden. Der Inhalt lässt sich nicht ohne Sinnverlust von der Form lösen. Mit diesem Dilemma hat jeder Bibelübersetzer zu leben, und sei er noch so begabt. Die bedeutendsten Uebersetzungen, die griechische der Siebzig (Septuaginta), die lateinische von Hieronymus (Vulgata) und die deutsche Martin Luthers verzichten weitgehend auf eigentümliche hebräische Formelemente, Strukturen und Dynamik. Die typischen hebräischen Wiederholungen fördern die dynamische Gesamtwirkung und erschliessen oder verdeutlichen einen Sinn des Textes.)


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Montag, Juni 12, 2006

Neun Wege, Gott zu lieben

Bei unseren Morgenbesinnungen in der Casa Moscia begleitet uns das Buch von John Ortberg: Abenteuer Alltag. Ein ganz normaler Tag mit Jesus. Es ist ein einfaches, kurz gehaltenes Arbeitsbuch, das viel Raum für eigene Gedanken und Erkenntnisse lässt. Sein Impulse sind kurz, jedoch einprägsam. Das schätze ich.
So haben wir die Einheit der geistlichen Zugänge begonnen. Deshalb möchte ich hier meine Zusammenfassung des wertvollen Buches von Gary Thomas: "Neun Wege, Gott zu lieben" veröffentlichen:

Autor: Gary L. Thomas
Titel: Neun Wege, Gott zu lieben
Untertitel: Die wunderbare Vielfalt des geistlichen Lebens
Verlag: R. Brockhaus Wuppertal 2003
ISBN-Nummer: 3-417-24460-9

Gary Thomas hat am Regent College in Vancouver (Kanada) Theologie studiert, ist Pastor, Buchautor und Gründer und Leiter des "Center for Evangelical Spirituality". Er lebt mit seiner Familie an der Westküste in Bellingham, Washington (USA).

Zum Zweck dieses Buch schreibt er auf Seite 10 unten: "Es gibt viele Opfer eines "mechanisierten Christseins". Natürlich gibt es geistliche Leere unter den Menschen, die keine Christen sind; viel betroffener macht mich, dass ich auch immer mehr Christen begegne, die unter der gleichen geistlichen Leere leiden.
In letzter Konsequenz geht es dabei um die Art der geistlichen Nahrung. Viele Christen haben es nie gelernt, wie sie sich selbst geistlich "füttern" können. Sie leben auf Nulldiät und sind dann ganz überrascht, dass sie sich immer so "hungrig" fühlen."

Und auf Seite 29: "Wenn Sie dieses Buch gelesen, werden Sie Ihr geistliches Temperament oder Ihre Temperamente benennen können. Auf dieser Grundlage können Sie dann damit beginnen, ein geistliches Ernährungsprogramm für sich aufzustellen. Wohlgemerkt, Ziel ist nicht Selbstverwirklichung oder Selbstumkreisung. Ziel ist vielmehr, unsere Seele zu füttern, damit wir Gott ganz neu kennen lernen, ihn mit jeder Faser unseres Seins lieben und dieser Liebe dann Ausdruck geben können, indem wir auf andere zugehen."

Im zweiten Teil des Buches, ab Seite 35 stellt er die neun Wege dann detailliert vor auf je zirka 25 Seiten. Dabei umreisst er die verschiedenen Typen und illustriert sie mit anschau-lichen Personenbeispiele aus der Bibel und der Kirchengeschichte. Für jeden Typen zeigt er aber auch die Versuchungen auf, die oft mit Uebertreibungen und Vergötzungen zu tun haben. Um herauszufinden, inwiefern jemand wirklich zum entsprechenden Typen gehört, hat Thomas zu jedem Typ sechs pointierte Aussagen präsentiert. Sofern man diesen mehr-heitlich zustimmen wird, kann man davon ausgehen, dass derjenige diesen Weg benutzen sollte, um Gottes Liebe so zu spiegeln. Gary Thomas unterscheidet folgende neun Wege:

1. Der Natur-Typ: Gott in seiner Schöpfung lieben
 Naturverbundene Menschen in der Bibel: Adam & Eva (Thomas: "Gott entschied sich dafür, mit Adam und Eva in einem Garten zu wandeln"), Abraham, Hagar, Jakob, Jesus
 Geistliche Lektionen für den naturverbundenen Typen: Geistliche Wahrheiten sichtbar vor Augen; Gott klarer sehen: Ps 19,2: Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, die Himmelsfeste verkündet das Werk seiner Hände. Röm 1,20: Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen. Antonius: "Mein Buch ist das Wesen der geschaffenen Dinge, und immer wenn mir danach ist, die Worte Gottes zu lesen, dann sind sie schon da." Luther: "Die Schöpfung ist die Maske Gottes." Confessio Belgica: "Gott wird uns bekannt gemacht durch die Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt, die offen liegt wie ein schönes Buch." Thomas: "Die Schöpfung erinnert uns an Gottes Schönheit, an seine Macht und sein Gericht... Die Schöpfung weißt auf die Fülle Gottes hin"
 Gott in seiner Schöpfung lieben – wie geht das? Glauben, Erkennen und Empfangen. Thomas: "Die Schöpfung kann so etwas wie eine warme Decke sein, die Gott benutzt, um unsere kalten Herzen darin einzuhüllen."
 Versuchungen: Individualismus, Irrglaube und Natur als Idol

2. Der sinnliche Typ: Gott mit allen Sinnen lieben
 Der Gott der Bibel: laut und farbenfroh. Thomas: "Kunst kann uns ein tieferes Verständnis von Gottes Wahrheit und Wesen vermitteln... Wir sollten unseren Körper lieber in den Lobpreis Gottes einbeziehen, als ihn dabei zu ignorieren."
 Sinn für Schönheit – ein Gewinn
 Die Sinne wecken: Hören (Hes 3,12; Luther: Die Schrift ist dazu geschaffen, mehr gehört als gelesen zu werden), Riechen (Gen 8,21; Lev 26,31; 1 Sam 26,19), Bewegen, Fühlen, Sehen (Hes 1,4+26; Thomas: Da das Sehen einen grossen Einfluss auf uns ausübt, tun wir also gut daran, es in unser Gebet einzubeziehen.), Schmecken (Ps 19,11b: süsser seine Worte als Honig; Ps 34,9a: Kostet und sehet, wie gütig Jahwe!; Jer 15,16: Ich verschlang Worte Jahwes; Hes 3+10)
 Versuchungen: Anbetung ohne innere Ueberzeugung, Verherrlichung der Schönheit; Hingabe als Selbstzweck

3. Der traditionalistische Typ: Gott lieben durch Rituale und Symbole
 Religiöse Riten in der Bibel
 Ausdrucksformen: Bewusste Zeichen einer unbewussten Tat. Evelyn Underhill. Greifbare Welt nutzen, um nicht greifbare Wahrheiten auszudrücken
 Riten: Feste und Riten im Kirchenjahr, Biblische Rituale, Der christliche Kalender, Vorgegebenes Gebet (Thomas: Ich habe festgestellt, dass es sehr hilfreich ist, Gebete zu wiederholen – nicht weil dann die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Gott uns hört, sondern weil ich selbst besser verstehe, was ich da bete... Menschen, die neu zum Glauben gekommen sind, brauchen oft mehr Anleitung als die übliche Empfehlung: "Rede einfach mit Gott und sag ihm, was du auf dem Herzen hast." Das reicht nicht, um ihnen beizubringen, wie man richtig betet.), Feste Gebetszeiten
 Symbole
 Opfer (Thomas: Glaube wird heute oft als Mittel dazu gesehen, etwas Bestimmtes von Gott zu bekommen. Eigentlich aber sind Christen immer Menschen gewesen, die etwas Kostbares abgegeben haben.)
 Versuchungen: Gott dienen, ohne ihn zu kennen, soziale Pflichten vernachlässigen, andere verurteilen, mechanisches Wiederholen, Vergötzung von Riten (absoluter Wert beimessen)

4. Der asketische Typ: Gott lieben in Einsamkeit und Schlichtheit
 Asketen in der Bibel: Daniel, Johannes der Täufer, Jesus
 Drei Schwerpunkte: Zurückgezogenheit und Einsamkeit; Einfachheit und Beschränkung; Konsequenz und Strenge
 Asketisches Leben konkret: Nächtliches Wachen, Still sein, Fasten, Gehorsam, Arbeit, Einkehrtage (Thomas: Unser Leben hat viele verschiedene Phasen, und wir müssen lernen, unser geistliches Leben, ja sogar unser geistliches Temperament den verschiedenen Anforderungen unserer sich wandelnden Lebenssituation anzupassen.), Einfach leben, Entbehrungen auf sich nehmen. Thomas: "Asketisch geprägte Christen sind bereit, auf die Freuden und Tröstungen dieser Welt zu verzichten, um in den Genuss der Freuden und Tröstungen zu kommen, die Gott uns schenken will."
 Versuchungen: Die persönliche Frömmigkeit zu sehr betonen; Leid suchen um des Leids willen; Gottes Gunst erwerben wollen

5. Der aktivistische Typ: Gott lieben durch Konfrontation
 Biblische Lektionen für Aktivisten: Mose, Elia und Elisa, Habakuk
 Konfrontation – ein Schwerpunkt im Leben des Aktivisten (Thomas: "Für Aktivisten ist der Kampf die geistliche Nahrung, die sie brauchen.")
 Formen des Aktivismus
 Beten – ein wichtiges Thema für Aktivisten: Gebetsgänge, Prozessionen, Fürbitte (Thomas: "Aktivisten brauchen das Gebet, um sich die richtige Ausrichtung und ihre Reinheit zu bewahren. Der Hass auf die Sünde kann zu einem Hass auf die Menschen werden, wenn Aktivisten müde werden und geistlich ausbrennen.")
 Versuchungen: Andere verurteilen, Ehrgeiz und Sex, Elitäre Gedanken und Groll, Uebertriebene Geschäftigkeit, Mangelnde persönliche Heiligung

6. Der fürsorgliche Typ: Gott lieben durch Nächstenliebe
 Biblische Beispiele für den fürsorglichen Typ: Mordechai, Jesus (Thomas: Für Christen vom fürsorglichen Typ ist die Zuwendung zu andern keine lästige Pflicht, sondern eine Form der Anbetung.")
 Biblische Ermahnungen
 Formen der Fürsorge: einem Freund durch eine persönliche Krise helfen, jemandem bei Reparaturarbeiten oder Computerproblemen helfen, auf die Kinder müder Eltern aufpassen, etc.
 Fürsorgliche Christen als Propheten
 Versuchungen: Andere verurteilen; Anderen dienen als Dienst an sich selbst; Eingeschränkter Blickwinkel; Menschen vernachlässigen, die an am nächsten stehen.

7. Der enthusiastische Typ: Gott lieben durch Mysterien und Feiern
 Das Mysterium des Glaubens (Thomas: "Der Gott, dem wir dienen und den wir anbeten, ist ein übernatürlicher Gott, der sich uns auch auf übernatürliche Weise zeigt.")
 Gefahren: Bibel nicht beachten und Verstand nicht gebrauchen
 Segnungen: Träume, Erwartung, Gebet
 Formen des Feierns
 Im Gottesdienst feiern: Zeit mit Kindern verbringen; Schöpferisches Gestalten; Wenn Enthusiasten die Bibel lesen
 Versuchungen: Erfahrungen um ihrer selbst willen suchen; Unabhängig sein; Gute Gefühle und gute Anbetung sind nicht das Gleiche

8. Der kontemplative Typ: Gott lieben durch grenzenlose Hingabe
 Biblische Beispiele für den kontemplativen Typ: Geliebte Gottes: Benjamin, Maria, die Frau mit dem Parfüm
 Kontemplatives Christsein gestalten: Das Jesusgebet (Herzensgebet); Verborgene Taten der Hingabe; Gebet als Tanz; Zentriertes Gebet, Kontemplatives Gebet; Den Kreuzweg beten; Meditation nach Ignatius von Loyola
 Versuchungen: Einseitige Anbetung; Gott gleich werden wollen; Meditation ohne Opferbereitschaft; Abhängigkeit von spirituellen Erlebnissen

9. Der intellektuelle Typ: Gott lieben mit dem Verstand
 Thomas: "Jesus Christus selbst hat dem Verstand eine wichtige Rolle zugedacht, als er sagte, wir sollten Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all unserem Verstand und allen unseren Kräften lieben... Wenn der Verstand eines intellektuellen Christen erwacht, wenn er etwas Neues über Gott oder seine Wege mit seinen Kindern lernen kann, dann löst das grosse Bewunderung und Hingabe bei ihm aus... Ich habe herausgefunden, dass mein Glaube die Stimulation durch Bibelstellen braucht, um zu wachsen und reifen zu können. Ich brauche die Auseinandersetzung mit in Liebe gestellten, schwierigen Fragen."
 Intellektuelle Christen aus der Sicht der Bibel: Levi, Salomo, Augustinus, Thomas v. Aquin, Calvin
 Intellektuelles Training
 Themengebiete der Theologie: Kirchengeschichte, Bibelkunde, Systematische Theologie, Ethik, Apologetik
 Bekenntnisse
 Als intellektueller Christ wachsen und reifen
 Versuchungen: Den Streit zu sehr lieben; Wissen statt Handeln; Stolz


Am Schluss des Buch zieht Thomas folgende, allgemeine Schlussfolgerungen auf Seite 252:
"Statt uns in den Grenzen unserer eigenen Erfahrungen zu bewegen und abzukapseln, sollten wir lieber voneinander lernen. Ich denke auch, dass die Menschen viel zu viel von ihrer Gemeinde erwarten... Jede Gemeinde ist voll von miteinander rivalisierenden geistlichen Temperamenten. Es ist zu viel verlangt, wenn man erwartet, dass ein einstündiger Gottesdienst alle sieben Tage die geistlichen Bedürfnisse jedes Einzelnen befriedigt. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch es den Menschen leichter macht, den Gemeindegottesdienst regelmässig durch ihre persönlichen Zeiten und Formen der Anbetung zu ergänzen. Dann können sie sich im gemeinsamen Gottesdienst darauf konzentrieren, gemeinsam den Ruf des christlichen Glaubens zu hören und sich dafür ausrüsten zu lassen, hinaus zu gehen in die Welt. Es grenzt an Götzendienst, wenn man meint, ein einziger Lehrer könne einem alles geben, was man braucht, um im Glauben zu wachsen...
Viel gesünder ist der Ansatz, ein Gebets- und Glaubensleben zu entwickeln, dessen Früchte umgekehrt Gemeindeleben zugute kommen. Statt den Gottesdienst zu kritisieren, könnte man lernen, ihn zu bereichern. ..."

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Sonntag, Juni 11, 2006

Herkunft Enneagramm

Im April 06 habe ich mit meiner Arbeitskollegin Ruth Michel einen Enneagrammkurs in der Casa Moscia geleitet. Ich kenne das Enneagramm seit ungefähr 15 Jahren und es hat mich auf meinem geistlichen Lebensweg weitergebracht. Nun habe ich mich erneut bezüglich der Bedeutung, Herkunft, Chancen und Gefahren nochmals schlau gemacht. Nachstehend einige Gedanken dazu:
Der Name „Enneagramm“ ist griechisch und bedeutet neun Buchstaben, neun Punkte, Neuneck oder Neunerfigur. Dass Zahlen eine grössere und tiefere Bedeutung haben können, geht wahrscheinlich auf den Griechen Pythagoras (569-496 vChr) zurück. Der Ursprung und die Herkunft des Enneagramms als Charaktertypologie ist jedoch weitgehend unklar und kann nicht eindeutig zugeordnet werden. Es gibt verschiedene Vermutungen, wenige Ueberlieferungen, Bruchstücke und Vorstufen. Das Alter wird auf ungefähr 2'000 Jahre geschätzt. Als Entstehungsort wird Persien oder Afghanistan angenommen, ein kultureller und spiritueller Schmelztiegel der damaligen Zeit und Welt. Verschiedene Einflüsse waren dort am Werk, für das Enneagramm waren wesentlich:

Frühchristliche: Der Apostel Thomas hat das Evangelium von Jesus Christus ostwärts getragen. Man nimmt an, dass er 53 nChr in Nordindien gewesen war. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens erfolgte entlang der Seidenstrasse bis nach Indien und China (gemäss Inschriften ca. 400-600 nChr). Die Nachfolger von Thomas wurden "Nestorianer" genannt, gemäss Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel 428-431 nChr. Dieser wurde 431 nChr auf dem Konzil von Ephesus als Häretiker verurteilt, weil er Maria nur als Christus- und nicht Gottesgebärerin akzeptieren wollte. Er starb 451 nChr in Aegypten. Die Nestorianer verbreiteten sich ausserhalb des römischen Reiches und hatten eine andere Entwicklung als die westlichen Kirchen durchgemacht. Es gibt sie noch heute, sie nennen sich: Asssyrische, Persische oder Chaldäische Kirche.
Im vierten Jahrhundert wurde das Christentum im römischen Reich zur Staatsreligion. Viele wollten oder mussten Christinnen und Christen werden, jedoch das geistliche Leben wurde oberflächlicher. Das trieb ernsthafte Gläubige aus den Städten in die Wüste Aegyptens, wo sie ein einsames, kontemplatives Leben führten, um in Gott zu ruhen. So entstanden die Wüstenväter, der Georgier Evagrius Pontikus (345-399 nChr) war einer von ihnen. Er sagte: „Ein Gebet, das durch nichts mehr abgelenkt wird, ist das Höchste, das der Mensch zu Wege bringt.“ Aus dem Gebet heraus entwickelte er eine Lasterlehre der sieben respektiv acht Phantasien, Leidenschaften oder Dämonen, die dem Menschen bei seiner Gottsuche im Wege stehen. Die katholische Kirche machte daraus die Lehre der acht Haupt- und der sieben Todsünden. (Gegenüber dem Enneagramm fehlen „nur“ Angst/Furcht und Lüge/Täuschung.)

Sufistische: Die Sufis sind eine mystische Variante des Islams und werden von orthodoxen Moslems teilweise heftig bekämpft. (ararbisch „suf“ bedeutet grobes Wollgewand.) Sie haben einige Elemente aus Judentum und Christentum aufgenommen und in ihr asketisches Leben integriert. Auch haben sie das Enneagramm weiterentwickelt und mündlich überliefert, weil ihnen Gottessuche und Seelenführung der Menschen wichtig waren. Für den Sufi ist das Wichtigste die Liebe, die sich ausdrückt in der Hinwendung zu Gott. Er will Gott nahe kommen, seine Wünsche zurücklassen und „sterben bevor man stirbt“. Er weiss, dass er Gott gegenüber arm ist, ein Derwisch, was Bettler bedeutet.

Im Mittelalter gab es in Europa immer wieder Personen, die sich mit geistlichen Prinzipien auseinandersetzten, die auch dargestellt und gelehrt werden konnten. Erwähnenswert sind der Spanier Ramon Lull, geboren 1232 in Mallorca, der neunteilige Figuren entwarf, die die Eigenschaften Gottes und der Menschen darstellten. Der Engländer Geoffrey Chaucer, 1340-1400, stellte fest, dass es für jede Sünde ein Gegenmittel, Heilmittel, eine Tugend gibt: Demut für Stolz, Gottesliebe - Neid, Geduld - Zorn, Tapferkeit - Trägheit, Barmherzigkeit - Geiz, Nüchternheit - Völlerei und Keuschheit - Buhlerei. Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher 1602-80 war ein Universalgelehrter, der unter anderem die Figur der Enneade, was Neunheit bedeutet, entwickelte.

Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde das Enneagramm nur mündlich weitergegeben. Dazu waren nur geistliche Lehrer ermächtigt, die es punktuell an ihre Schüler weitergaben, damit diese Wachstumsschritte auf dem Weg zu Gott tun konnten.
Der Armenier Georg Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949) brachte Elemente des Enneagramms, die er in Zentralasien kennengelernt hatte, 1916 aus Afghanistan nach Europa (St. Petersburg und Paris) und übte damit bei seinen Anhängern grossen Einfluss und Macht aus. Er lehrte eher aus Erfahrung und Intuition und weniger systematisch und nachhaltig.

Der bolivianische Psychologe Oscar Ichazo war der Erste, der das Enneagon der Fixierungen, wie er es nannte, 1969 in Arica, Chile, systematisch lehrte. Der Chilene Claudio Naranjo brachte es 1971 in die USA ans Esalen-Institut in Big Sur bei San Francisco. Von dort übernahmen es John Lilly, der Jesuit Robert Ochs, die Psychologin Helen Palmer und viele andere und verbreiteten es in den USA. Nach Erprobung und Prüfung veröffentlichten 1984 der Jesuit Patrick O’Leary zusammen mit Maria Beesing und Robert Nogosek ein erstes Einführungsbuch und machten das Enneagramm in christlichen Kreisen populär. 1989 erschienen erste Bücher in deutsch, unter anderem das Standardwerk „Das Enneagramm“ vom Franziskaner Richard Rohr und dem evangelischen Pfarrer Andreas Ebert.
Heute gibt es drei Hauptrichtungen zu beobachten, die das Enneagramm gebrauchen und verbreiten:
* eine psychologische (humanistische Psychologie und Psychoanalyse, Leitfigur: Helen Palmer)
* eine esoterische (z. B. Arica, Chile und Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien)
* eine christliche (führend erscheinen mir hier nach wie vor katholische Ordensleute in den USA zu sein)

Wichtigste Quellen:
Richard Rohr & Andreas Ebert: Das Enneagramm. Die 9 Gesichter der Seele. Claudius München 1989
www.enneagramm-deutschland.de (Oekumenischer Arbeitskreis Enneagramm e.V. Celle)
www.wikipedia.org/deutsch/enneagramm (empfehlenswertes, aktualisiertes Nachschlagewerk im Web)

Chancen und Gefahren im Umgang mit dem Enneagramm
Es gibt viele Chancen im Umgang mit dem Enneagramm, aber auch einige Gefahren sind zu beachten:
Chancen: Es ist ein Hilfsmittel und Werkzeug zur persönlichen, zwischenmenschlichen und geistlichen Entwicklung und Reifung. Durch Selbstbeobachtung kann ich mich besser kennen, einschätzen und auch gesund begrenzen lernen. Alle neun Gestalten sind gleichwertig, jeder bedarf der Ergänzung durch andere Menschen. Meine Weltsicht ist also nicht die einzige und schon gar nicht die beste. So kann ich andere besser verstehen, wertschätzen, würdigen oder auch nur stehen lassen. Das Enneagramm beinhaltet das grundsätzliche Potential und Dynamik zur Entwicklung und Veränderung der Menschen. Ich beginne meine einschränkenden und zerstörerischen Lebensmuster und meine dunklen Seiten anzuschauen. Ich werde aufgefordert, mich in eine Richtung zu bewegen, die der Integration und Gesundung der Persönlichkeit dient. Ich halte mich dem dreieinigen Gott hin, so dass er mir die Gnade und Kraft gibt zur Veränderung und mich in sein Bild verwandeln kann.

Gefahren: Es ist ein Modell und Wegweiser, nicht die Wirklichkeit an sich! Dies übersehen viele und stülpen das Modell über alle und alles, setzen es gar absolut oder verwenden es als Heilsweg (Tendenz zur Selbsterlösung. Erlösung schafft aber allein Gott!). So kann man es überschätzen, sich zu sehr darauf fixieren und sich auch überheben über andere. Denn Wissen ist Macht und verführt zur Manipulation! Auch Fehleinschätzungen bei sich und anderen sind häufig. Zudem macht das Enneagramm wenig Aussagen zu Alter, Geschlecht und Umfeld. Es ist völlig untauglich für Kinder und wenig geeignet Jugendliche bis 25 Jahren.



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