Mittwoch, April 13, 2016

Larry Siedentop: Die antike Familie, Staat und Kosmos

Siedentop zeigt deutlich auf, dass die Aufklärung versuchte, die Antike heller zu zeichnen und das Mittelalter dunkler als sie wirklich waren. Für das Studium des Altertums ist es aber unerlässlich, sich auf Zeugnisse zu stützen, die uns diese Epoche hinterlassen hat. Nur so können wir jede Epoche realistisch wahrnehmen und einschätzen. 1. Die antike Familie In der Antike waren aber die Gesellschaft und die Familie mit dem pater familias alles, denn er war auch Richter und Hohepriester. Die einzelne Person jedoch galt nichts. Der Vater hatte das heilige Feuer am häuslichen Herd zu hüten, der Herd erhielt somit altarähnliche Funktionen. Diese Aufgabe übergab er dem ältesten Sohn. Nur so konnten die göttlichen Ahnen unter der Erde ruhig gehalten werden. Erst wenn die Familie ausgestorben war, hörte auch das Feuer auf zu brennen. Religion war Familienkult und bestimmte Beziehungen, Besitz und Boden und bewahrte sie. Der Vater war gottähnlich, dem man verpflichtet, zugeneigt und ergeben war. Die Gesellschaft war ein Zusammenschluss von Familien, die je ein eigenes Recht und Kult hatten, die in der Familiensphäre gelebt wurden. 2. Der antike Staat Die Aufklärung idealisierte den antiken Staat, die res publica, obwohl diese vom Patriarchat bestimmt und geprägt worden war und Unterordnung verlangte. Die Entwicklung in der Antike ging von der Familie zum Clan, dann zum Stamm, die wiederum in Städten zusammengezogen wurden. So wurde alles grösser, auch die polytheistischen Götter und ihr Einfluss nahm zu. Ein Sohn wurde auch zuerst in der Familie aufgenommen, dann im Kult des Stammes und als erwachsener Bürger in der Stadt, der terra patria. Frauen und Sklaven hatten wenig Rechte, Raum für individuelle Entscheidungen war nicht vorgesehen. Erst im römischen Reich bekamen auch jüngere Söhne mehr Rechte. Wille der Götter und eine hohe Tugend war dagegen die Hingabe an das heilige Vaterland. Urbs war der physische Ort, civitas dagegen der moralische Kitt, der religiös-politische Zusammenhalt. 3. Der antike Kosmos Vernünftige und überzeugende Reden zeigten die soziale Überlegenheit und den hohen Status einer Person an. Arbeit und Handel waren in der Antike verachtet, dagegen wurde militärische Tapferkeit geachtet. Denn das Ziel war Ehre in der res publica. Hierarchische Vorstellungen wurden auch aufs Weltall projiziert. Dadurch wurde ein antikes Modell mit Kristallsphären gebildet, bei dem Logos und Aufstieg wichtiger waren als Beobachtung des realen Alls.

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Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums

Der amerikanische Politwissenschaftler, Historiker und Philosoph Larry Siedentop hat 2014 ein Buch geschrieben, das auch im deutschen Sprachraum in vielen Medien Beachtung gefunden hat. Es heisst im Original: Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism. Allen Lane 2014, ISBN 0-713-99644. 2015 ist es auch in Deutsch herausgekommen unter dem Titel: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Es ist im Verlag Klett-Cotta in Stuttgart unter der ISBN 978-3-608-94886-8 erschienen. Der 80jährige Siedentop lehrte Ideengeschichte an der englischen Universität von Sussex und politische Philosophie am Keble College in Oxford. Eine Summe seiner Erkenntnisse legt er in seinem neusten, 476-seitigen Werk vor. Er beschreibt und begründet, wie der westliche Liberalismus und Säkularismus aus christlichen Glaubensinhalten wie Gleichheit und Freiheit entstanden ist. Zu Beginn skizziert Siedentop die antike Familie mit dem „pater familias“ im Zentrum. Seine wichtigste Aufgabe war das Hüten des heiligen Feuers am Herd des Hauses. Diese Aufgabe übertrug er bei seinem Ableben dem ältesten Sohn. Der Vater hatte einen gottähnlichen Status, und die ganze Familie war ihm uneingeschränkt zugeneigt und ergeben. Raum für individuelle Entscheidungen war nicht vorgesehen, das galt später auch für die „res publica“, das antike Gemeinwesen, dem nur die Männer ganz zu dienen und etwas zu sagen hatten. Siedentop folgt dem Werk „Der antike Staat“ des französischen Historikers Fustel de Coulanges von 1864, das er noch heute für unübertroffen hält. Bereits der jüdische Glaube an einen Gott war im „Imperium Romanum“ interessant geworden, um aus der antiken Welt der Ungleichheit auszusteigen. Vor allem durch überzeugende Nächstenliebe hatte sich dann der christliche Glaube im spätrömischen Reich ausgebreitet. Kirchen und Klöster förderten nebst Bildung auch Gleichheit und Individualität der Personen und brachen die antiken Familien- und Gesellschaftsstrukturen mit ihrer religiös motivierten Ungleichheit auf. Bereits im Mittelalter wurden Werte wie Gleichheit und Freiheit zunehmend akzeptiert und schufen die Basis für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung mit steigender Chancengleichheit. Siedentop kommt aber zum Schluss, dass heute diese Errungenschaften durch fundamentalistische Haltungen und autoritäre Regimes in Frage gestellt oder sogar zerstört würden.

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